Freitag, 16. Januar 2015

Willkommen in der Märchenbahn

Ich fahre gern mit der Bahn. Auch wenn die Fahrzeit sich gegenüber der Nutzung eines Autos zweifelsohne verdoppelt, bleibt mir so doch morgens eben diese Zeit, um in den Arbeitstag zu finden. Und nachmittags gelingt mit jedem Meter entspannten Heimweges das Gewinnen von Abstand und das Ankommen im Privatleben. Steuerlich und sonst auch kostentechnisch ist die Fahrt mit den Öffentlichen sowieso vorteilhaft.
Vor allem aber erlebe ich in der Bahn, was ich im Auto nie erleben könnte.
Wenn beispielsweise morgens gegen sieben in einer rappelvollen Straßenbahn ein Vater voller Hingabe seinem Kind auf dem Weg in den Kindergarten Märchen erzählt. Jeden Tag ein anderes. Und in einer Sprache irgendwo zwischen Kinderbuch und Ingenieursvortrag. In jedem Fall aber immer ausgeschmückt mit spannenden Details.
Fünfzehn Minuten Fahrt sind es bis zu jener Station, an der wir drei aussteigen. Fünfzehn Minuten die genügen, um ein wundervolles Märchen auf eine großartige Weise zu Ende erzählt zu haben. Fünfzehn Minuten, die einem Kind einen guten und fantasievollen Start in seinen Kindergarten-Tag sichern, die Papa zum Helden machen. Fünfzehn Minuten, die einem Kind die Sicherheit geben, dass es in dieser merkwürdigen Erwachsenenwelt, in der ansonsten morgens scheinbar alle hektisch, muffelig und furchtbar im Stress sind, einen für es allein reservierten Platz gibt.
Und ganz nebenbei verzaubert der so engagiert erzählende Vater noch eine ganze Straßenbahn voller Erwachsener und zieht sie in den Bann der alten Märchen, die doch irgendwie alle kennen. Meist mit Lücken kennen.
Oder wissen Sie noch, wie es dazu kommt, dass Rapunzel von der Zauberin in den Turm gesperrt wird? Seit heute früh weiß ich es wieder.
Es ist wunderbar zu wissen, dass es solche Eltern gibt, die sich so hingebungsvoll dem Wachsen und Werden ihres Kindes widmen. Vielleicht sind es viel mehr, als ich denke. Besonders schön ist es aber zu erleben, dass dieses Kümmern auch dort gelingt, wo andere gemeinsam mit ihren Kindern in Stress geraten. Fast fühlt es sich an, als würde der erzählende Vater sein Kind verteidigen gegen die Unzulänglichkeiten der morgendlichen Erwachsenenwelt. Und fast fühlt es sich wie ein Appell an die Erwachsenenwelt an, sich auf Dinge zu besinnen, die faszinieren und in den Bann ziehen, Dinge eben, die wir alle gemeinsam genießen können. Es scheint gute Gründe dafür zu geben, dass ausgerechnet Märchen die Jahrhunderte überdauert haben.

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